Um gute Porträts zu machen, ist keine bestimmte Brennweite nötig. Viel wichtiger ist es, zu wissen, was die unterschiedlichen Brennweiten mit der Person vor der Kamera „machen“. Ein paar Gedanken zu der Annahme, dass es so etwas wie eine Porträtbrennweite gibt.

Environmental oder eher ein cleanes Porträt?

Wenn du Fotos von einem Menschen machen möchtest, musst du einige Entscheidungen treffen. Unter anderem wären diese zu nennen: Welche Einstellungsgröße willst du haben, also wie groß soll in diesem Fall die Person im Bild sein? Soll der Hintergrund ein schönes Bokeh haben, soll der Hintergund erkennbar sein, willst du eine starke Kompression erzielen, viel oder wenig Umgebung haben? Diese Fragen können dir einen ersten Hinweis geben, welche Brennweite geeignet ist. Andererseits kannst du natürlich einfach erstmal loslegen und sehen, wie weit du damit kommst. Vor allem, wenn du nur eine Brennweite zur Verfügung hast, ist das wohl die intuitivere Variante.

Ich werde und will hier nicht alle Arten von „Porträtobjektiven“ vorstellen. Eher möchte ich dir Mut machen, mit dem, was dir in diesem Moment zur Verfügung steht, Porträts zu machen, und nicht zu warten, bis der Postmann dir das ersehnte bestellte 85mm-Objektiv bringt.

Der Klassiker: 85mm als Porträtbrennweite

Jaja, diese 85 Millimeter: In der Kleinbildfotografie galt dies als klassische Porträtbrennweite. Es ist die Brennweite, die immer geht, die „risikoarm“ ist. Gesichtsmerkmale werden nicht übermäßig betont oder gar verzerrt wiedergegeben, es entsteht ein natürlicher Eindruck, auch wenn du relativ nah an dein Model herangehst. Auch bei mittlerer Blende (f/8) hast du bereits eine schöne Trennung von Vorder- und Hintergrund. Andererseits kannst du den Hintergrund auch ein Stück weit mit einbeziehen, sodass zumindest ein kleiner Eindruck von der Umgebung mit auf das Bild kommt.

Ein-Licht-Portrait
Klassisch: Cleaner Headshot mit 56mm (85mm-KB-Äquivalent)

Selber habe ich – zu Analogzeiten – bevorzugt mit dem Canon FD 85mm f/1,8 an der A1 fotografiert. An meinen Fujis habe ich für Headshots und Standardporträts das Fujinon 56mm f/1,2. Wenn du Porträts machst, kommst du vermutlich um ein 85mm-Objektiv (oder entsprechenden APS-C-Äquivalenten) nicht herum. Ich habe es immer dabei, wenn ich weiß, dass ich normale Porträts machen werde.

Warum sollte ich aber mit anderen Objektiven fotografieren, wenn ich weiß, dass ich mit einem 85er gut fahre und damit quasi immer gute Porträts machen kann? Zuerst einmal: 85mm sind auch nur eine weitere Brennweite. Wer sagt denn, dass man nicht gute, bessere, eindrucksvollere Porträts auch mit anderen Objektiven machen kann? Wie gesagt, der klassische Weg ist der Sichere, aber ich möchte dich hier ermutigen, es mit anderen Brennweiten zu probieren. Nicht immer wirst du auf Anhieb megatolle Bilder machen, es erfordert mitunter Übung. Vor allem, wenn du weitwinklig fotografierst, solltest du das mit einem vertrauten Menschen üben, der es dir nicht unbedingt übel nimmt, wenn die Verzerrung offensichtlich wirkt.

Gelungene Beispiele, wie sich z. B. eine klassische Reportagebrennweite von 35mm für Porträts eignet, zeigt Paddy von Neunzehn72 in seinem Blog.

Eignet sich ein Ultraweitwinkel als Porträtbrennweite?

Aber es geht auch weiter. Die Begrenzung liegt nur in deinem Kopf. Während es mit Standardbrennweiten (50mm im Vollformat, ~35mm bei APS-C) und leichten Weitwinkelobjektiven (35mm im Vollformat, ~23mm bei APS-C) noch relativ einfach ist, kann ein stärkeres oder gar Ultraweitwinel eine echte Herausforderung sein. Dennoch können Porträts mit Brennweiten unter 28mm bei sorgfältiger Handhabung gelingen und ganz besonders stark werden.

  • Outdoor-Portrait mit Blitz und dem Fujinon 16-55mm bei 16mm
    16mm (24mm im Vollformat) als Porträtbrennweite
  • Outdoor-Portrait mit Blitz und dem Fujinon 16-55mm bei 23mm
    23mm (35mm im Vollfomat) als Porträtbrennweite
  • Outdoor-Portrait mit Blitz und dem Fujinon 16-55mm bei 55mm
    55mm (85mm im Vollformat) als Porträtbrennweite

In einem seiner One-Light-Workshops macht Zack Arias Porträts von einem Musiker auf der Bühne – mit einem Fujinon 14mm f/2,8 (ca. 21mm auf Vollformat). Man erhält einen starken Raumeindruck, während die Person dennoch unverzerrt im Vordergrund ist.

Auch Joel Grimes benutzt vorwiegend Weitwinkel-Objektive für seine Porträtarbeiten und erzielt genau damit seinen spezifischen Look (neben dem Licht und der Nachbearbeitung, muss ich fairerweise sagen). Nur ganz selten nimmt er ein leichtes Tele zur Hand.

Mit Weitwinkel-Objektiven als Porträtbrennweite zu arbeiten ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Neben den „neuen“ Porträt-Fotografen haben natürlich auch die alten Meister wie Irving Penn oder Jeanloup Sieff viele ihre stärksten Bilder mit Weitwinkel gemacht.

Probiere es selbst und finde deine persönliche Porträtbrennweite

Natürlich ist es wichtig, dass du für die Arbeit mit Menschen „deine“ Brennweite findest. Manche Fotografen kommen mit der einen Brennweite besser klar als mit einem anderen Objektiv. Die Wahl der Porträtbrennweite beeinflusst auch auf längere Sicht den Look deines Portfolios, die Konsistenz deiner Arbeit und Entwicklung eines Stils und deiner persönlichen Handschrift.

Ich persönlich lerne den Eindruck von „Nähe“, die ein Standard- oder Weitwinkelobjektiv erzeugt, immer mehr zu schätzen. Wenn du ein Zoom hast, ist es noch leichter, unterschiedliche Brennweiten auszuprobieren.

Porträtbrennweite: Fujinon 35mm f/2
Standardobjektiv als Porträtbrennweite: Fujinon 50mm f/2

Wie ich hier schonmal geschrieben hatte: Benutze dein Zoom so, als hättest du ein Set mehrerer Brennweiten dabei. Stelle deine gewünschte Porträtbrennweite bewusst ein und gehe selber nah ‚ran oder weiter weg. Diese Art zu fotografieren ist wesentlich bewusster und bezieht deine klare Entscheidung für eine bestimmte Brennweite mit ein. Du wirst feststellen, warum was funktioniert, und welche Einstellung du eher nicht nimmst. Kurz: Irgendwann weißt du, was du tust ;-).

Porträtbrennweite: 23mm f/2
Porträtbrennweite: Fujinon 23mm f/2

Und was ist mit Objektiven über 85mm?

Vermutlich hast du es schon gedacht: Ich bin hier ausschließlich auf Brennweiten bis 85mm eingegangen. Diese 85mm stehen exemplarisch für leichte Telebrennweiten bis 135mm im Kleinbild- bzw. Vollformat. Natürlich kannst du mit 200 oder 300mm auch Portraits machen, sie bekommen dadurch ihre ganz eigene Wirkung – Bokeh, Hintergrundkompression machen sich hier wesentlich stärker bemerkbar. Bei den längeren Brennweiten wird es manchmal schwieriger mit der Kommunikation Fotograf – Model. Ganz einfach, weil ihr räumlich weiter voneinander entfernt seid.

Einen weiteren offensichtlichen Aspekt zu längeren Brennweiten im Porträtbereich möchte ich noch erwähnen: Du benötigst Platz. Draußen kein Problem, aber ich habe mal On Location Businessheadshots mit 105mm gemacht – da wurde es schon etwas eng im Zimmer. Ich stand mit dem Rücken an der einen, der Businessmensch mir gegenüber an der anderen Wand – hier habe ich das 85mm herbeigesehnt. Die räumliche Komponente ist also wesentlich entscheidender mit längeren Brennweiten.

Wie du siehst, kann jedes Objektiv als Porträtbrennweite geeignet sein. Es kommt einzig darauf an, was du damit machst. Herauszufinden, wie du welche Brennweite am besten einsetzt und welche Ergebnisse sich für ein Portfolio eignen (und welche du besser niemandem zeigst), erfordert Geduld und viele Bilder. Aber es lohnt sich!

Sicher hast du selber schon mit unterschiedlichen Porträtbrennweiten experimentiert und gemerkt, dass das eine Bild besser aussieht als das andere. Willst du deine Erfahrungen mitteilen, dann schreibe gerne einen Kommentar! Die Wahl des richtigen Objektives wird übrigens auch Bestandteil des nächsten Porträtfotografie-Workshops sein.


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