Reality Check
Eine Frau mittleren Alters fiel mir ins Auge. Ungeschminkt, kurzhaarig, maskulin. Interessant. Sie hatte ein ernstes, verschlossenes Gesicht, doch als ich sie ansprach, lächelte sie. Ich erzählte von meinem Buchprojekt. Sie sagte, es werde ja sicherlich veröffentlicht – und sie dürfe nicht gesehen werden. Ich fragte nach dem Grund, und sie sagte nur „Missbrauch“. Und ihr Ausdruck machte mir klar, dass sie nicht den Missbrauch der Bilder meinte, sondern den selbst erfahrenen. Für mich wirkte das wie ein kleiner Schlag in die Magengrube; erneut kam bei mir wieder die Frage nach den Grenzen auf: Wie nahe komme ich den Menschen eigentlich mit meinem Anliegen?
Aber es liegt natürlich an dem Projekt, dem Thema an sich. Wenn ich mich mit Menschen „am Rande“ beschäftige, sind es zwangsläufig Individuen mit ihrer eigenen Geschichte, und sei sie noch so hässlich.
So viele unterschiedliche Geschichten
Gerade an jenem Tag traf ich später so unterschiedliche Menschen, die sich in ähnlich prekären Situationen befinden. Manche sind dabei, wieder zurück in einen geregelten Alltag zu kommen, andere sind gerade auf der Straße gelandet. Manche trinken, manche sind abstinent, andere sind in einem Methadonprogramm oder haben andere Drogenprobleme. Von psychischen Problemen oder chronischen Krankheiten ganz zu schweigen.
Trotz all dieser Probleme und häufig perspektivlosen Situationen erlebe ich eine große Offenheit gegenüber meinem Fotoprojekt, auch wenn sich nicht alle für ein Foto bereit erklären. Mir wird ein großes Vertrauen entgegengebracht, und damit habe ich so nicht gerechnet. Einige wollen mir ihre Geschichte erzählen. Andere, die ich bereits fotografiert habe, beginnen, andere zu überzeugen, sich auch fotografieren zu lassen. Selbst dann, wenn sie ihr eigenes Foto in der Hand halten, ein mehr oder weniger ehrliches Bild mit allen Spuren, die die Straße hinterlässt, von sich sehen. Das hinterlässt in mir ein weiteres Mal ein Gefühl von Dankbarkeit, ein Gefühl, dass es richtig ist, was ich tue.