Fotografie hat für mich viel mehr mit Achtsamkeit zu tun, als es scheint. Und das betrifft nicht nur die Achtsamkeit beim Fotografieren an sich. Wenn ich Workshops und Trainings gebe, fällt mir öfter auf, dass Menschen Angst vor der Kamera haben. Und damit meine ich nicht fremde Kameras (und fremde Fotografen), sondern die Angst vor der eigenen Kamera. Ich sage bewusst „Angst“, es könnte auch „Unsicherheit“ lauten, aber es läuft am Ende auf dasselbe hinaus.
Hast du dich schon einmal in deiner Kamera verirrt? Dich in einem Menü wiedergefunden, in dem du noch nie warst, einen Modus aktiviert, den du bis dato noch nicht kanntest? Und du wusstest weder, wie du dort hingelangt bist noch, wie du wieder dort hinauskommst? Das ist keine Schande. Ich war auch dort, und das nicht nur einmal. Seit ich meine erste digitale Kamera hatte, ist mir das immer wieder passiert. Vorher fotografierte ich ausschließlich analog und manuell (abgesehen von einem Seitensprung mit der Canon A-1). Klar, auch dort gibt es Knöpfe und Hebel, und auch dort kann man viel verkehrt machen. Aber dennoch war die Welt einfacher, wenn ich mich lediglich mit dem Blendenring, dem Zeitenrad und vielleicht noch der ISO-Einstellung (und das nur einmal pro Film) befassen musste.
Achtsamkeit vs. Komplexität
In der Welt der digitalen Kameras will vieles einfacher sein, aber mir scheint, dass mit jedem neuen Menüpunkt die Komplexität steigt. Für mich hat es den Anschein, dass ich mich jetzt anders mit einer neuen Kamera auseinandersetzen muss – klar, das muss ich immer, wenn etwas neu und ungewohnt ist. Aber die meisten Modelle kommen mit Features, die ich nicht oder selten benötige.
Ich will nicht sagen, dass ich nicht dankbar bin für Histogramm und Weißabgleich. Dennoch ist es immer wichtig, zu wissen, wie du in deine Standard- oder gewohnte Arbeitseinstellung zurückkommst. Und dafür ist es unablässig, dass du die Angst vor den ganzen unbekannten Menüeinträgen und Knöpfen usw. verlierst. Wie du das machst? Indem du dich deiner Kamera stellst. Sie ist deine Freundin, dein treues Werkzeug. Lerne sie kennen, schenke ihr Achtsamkeit. Lerne sie im Schlaf und blind kennen. Und das meine ich wörtlich, denn nur, wenn du dein Werkzeug im Schlaf beherrschst, kannst du es souverän einsetzen. Lies das feine Handbuch, aber nimm sie vor allem regelmäßig in die Hand. Am besten gleich morgens nach oder vor dem Aufstehen.
Zappa calling
Einen kleinen Ausflug in die Musikwelt gefällig? Frank Zappa hat seine Musiker die Stücke nicht nur einfach üben lassen, er hat verlangt, dass sie außer den „normalen“ Versionen der Stücke auch noch eine Reggae- und eine Countryversion pro Stück spielten. Und für eine Tour war ein Repertoire von 100 Stücken selbstverständlich. In einem Interview mit dem Zappa-Drummer Chad Wackerman gab dieser zu verstehen, dass in den Probephasen die Stücke so sitzen mussten, dass Mr. Zappa theoretisch nachts anrufen und jeder Musiker das Stück spontan in jeder Variante spielen kann.
Auf deine fotografische Praxis übersetzt heißt das ganz einfach: Lerne deine Werkzeuge kennen. Deine Kamera, die Linsen, die Postprocessing-Tools. Nur so wirst du dich 100%ig auf das Bild – das Ergebnis also, auf das es ankommt – fokussieren können.
Inspiriert zu diesem kurzen Beitrag wurde ich durch einen längeren Blogartikel über „Deliberate Practice“, das für mich soviel bedeutet wie „mit Achtsamkeit üben“. Hier wird – wie z.B. im Yoga oder Golf oder auch beim Kochen – jeder einzelne Schritt mit höchster Fokussiertheit ausgeübt. Immer wieder. Bis sich alle Teile zum Ganzen zusammenfügen.
[…] Es ist ein etwas überstrapaziert scheinender Begriff, stolpert man doch mittlerweile an jeder Ecke darüber, wo er vor ein paar Jahren noch in der Esoterik-/ Spiritualitätsliteratur schlummerte. Und so wirkt es erstmal abwegig, so etwas in die Fotografie zu bringen. Schließlich geht es hier nicht um Aurafotografie oder ähnliches. Aber er scheint mir so wichtig, dass ich selbst nun schon zum zweitenmal darüber schreibe. […]
[…] “Deliberate Practice” – Achtsamkeit besiegt Angst […]