Vor geraumer Zeit lief im Fernsehen eine Dokumentation zum Thema „Intuition“. Bis dahin hatte ich dem Begriff wenig Aufmerksamkeit geschenkt und immer gemeint, es handle sich dabei um ein anderes oder ähnliches Wort für „Instinkt“. Nun wurde ich eines Besseren belehrt. Im Alltag ist es nicht leicht, die Intuition zu erkennen. Denn sie ist scheinbar unter Bergen von innerem Lärm, Gedanken, Konzepten und Plänen verschüttet.
„Was steht der Intuition im Weg?“ lautet der zweite Teil der Reihe, den ich als Anlass nehme, den Begriff etwas zu beleuchten. Angst vorm Scheitern, der innere Schweinehund, die Vernunft, oder auch die bloße Aufforderung, spontan oder kreativ oder beides gleichzeitig zu sein, sind häufig jene Steine, die dir den Weg versperren. Wie könntest du dich von diesen Hindernissen lösen? Natürlich gibt es kein Patentrezept für Intuition. Aber es gibt Ansätze, einmal alle Regeln radikal über Bord zu werfen und dann einmal zu sehen, wohin sie führen.
Intuition kann bedeuten, Regeln zu brechen
Ein paar Vorschläge, um dein Gespür für Intuition zu wecken: Vergiss die Belichtungsmessung und mache einfach mal eine ganze Reihe sinnlos erscheinender Zeit-/ Blendenkombinationen. Fotografiere unscharf. Fotografiere im Dunklen. Brich alle Regeln, lass den Blitz mal auf der Kamera (!) oder nimm gleich den eingebauten. Nimm abgelaufene Farbfilme, belichte sie doppelt (oder noch besser: gib den Film nachdem du ihn belichtet hast, jemand anderem zum erneuten Belichten).
Intuition kann man offenbar lernen, aber nicht durch Rationalisieren. Erfahrungen sammeln und offen sein für Neues. Scheinbar verrückte Dinge tun, die Perspektive wechseln. Meditieren. Singen. Oder, wenn es um Fotografie geht, mal ganz bewusst nicht zu sehen, wenn man die Straße entlanggeht, sondern nach Gehör fotografieren. Ok, das klingt absurd, aber wie auch beim Brainstorming ist erstmal alles erlaubt. Gib dem Zensor in dir einfach mal keine Chance.
Im zweiten Teil der Reihe kommt ein Hochseiltänzer zu Wort. Sinngemäß sagt er: „Das Know-How muss sitzen, ohne das geht es nicht“. In der Fotografie wäre dies ein solides Verständnis von Belichtung und Gestaltungsregeln und natürlich das Beherrschen der Kamera selber – das Muskelgedächtnis. Aber sobald ich diese technischen und erlernbaren Dinge mehr oder weniger blind beherrsche, kann ich z.B. durch die Straße gehen und mich nur auf meine Umgebung konzentrieren, ohne ein Motiv zu erzwingen, sondern vorauszusehen, ob und wo sich eine Situation ergibt, die ein Bild wert ist.
Es kann fließen
Der Begriff des „Flow“ lässt sich hierauf recht gut anwenden. Ich habe schon häufiger von der Methode gelesen, beim Fotografieren auf der Straße Musik zu hören, um in eine Art Flow-Zustand zu gelangen und sich nicht von Geräuschen oder Gesprächen ablenken zu lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das für manche funktioniert. Du kannst dich voll auf das konzentrieren, was du siehst, ggf. sogar vom inhaltlichen Kontext abstrahieren und z.B. nur auf Linien, Formen und Farben achten. Möglicherweise bist du dadurch auch weniger gehemmt, in der Öffentlichkeit zu fotografieren.
Selber habe ich das noch nicht probiert, und für mich fühlt es sich besser an, wenn ich mit allen Sinnen auf der Straße dabei bin. Das Ohr fotografiert sozusagen mit – so kann ich beispielsweise hören, wenn sich Schritte nähern, wenn ich an einem bestimmten Ort stehe und das Bild schon vorkomponiert habe.
Bei manchen Bildern „weiß“ ich, dass ich genau jetzt abdrücken muss. Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn dann wäre die Situation bereits Vergangenheit, die Chance verpasst. Woher kommt dieses „Wissen“? Es ist eine Art Gefühl, das den analytischen Verstand umgeht und sich auch nicht darum schert, ob es nun gut oder schlecht ist, abzudrücken. Manch einer würde auch „Eingebung“ sagen.
„Geh‘ in die Instabilität!“
So lautet ein weiteres Zitat, das mich zum Nachdenken angeregt hat. Was bedeutet dieses „in die Instabilität gehen“ für die Streetfotografie? Ich versuche es mal so: Du weißt im Prinzip nie, was in den nächsten Momenten auf dich zukommt, wenn du mit der Kamera auf die Straße gehst. Dieses wenig Planbare ist auch das, was den Reiz der Streetfotografie ausmacht. Das wäre eine Art der Instabilität. Du begibst dich automatisch in eine Unsicherheit, wenn du Leute auf der Straße ansprichst. Klar, du kannst sagen, die Antwort wird entweder „Ja“ oder „Nein“ sein – was ist daran nun intuitiv? Aber es gibt hier eben nicht nur diese zwei möglichen Antworten, sondern unzählige Möglichkeiten dazwischen. Du wirst immer wieder in unterschiedliche Situationen kommen, sei es, dass sich ein Gespräch entwickelt, du mit anderen Menschen in Kontakt kommst (und diese fotografieren kannst) oder was es auch immer sei.
Ein anderes Beispiel: Nachdem ich an einem Vormittag nach 3 unfruchtbaren Stunden auf der Straße meine Sachen packen und nachhause fahren wollte, stand ich an einer Straßenecke. „Wenn ich jetzt geradeaus gehe, komme ich zu meinem Fahrrad und fahre gleich nachhause. Ohne ein gutes Bild, und ohne einen Menschen angesprochen zu haben. Aber was ist, wenn ich in die Straße links gehe, in der ich noch nie war?“ Dieser Gedanke erfolgte nicht bewusst. Vielmehr entschied ich mich innerhalb von Sekundenbruchteilen, nach links zu gehen.
Etwas ungewiss zwar, denn was sollte mich hier schon erwarten, zumal die Straße menschenleer war. Aber nach ca. 100 Metern kam mir ein Mensch entgegen, verschwitzt, sein Fahrrad schiebend, angetrunken. Wünschte mir einen schönen Tag und sagte „tolle Kamera“. Ich entgegnete „ja, stimmt. Soll ich ein Bild von dir machen?“ Nicken, ich machte ein paar Bilder.
Danach ging ich weiter, durch einen Hinterhof mit einem „Durchgang verboten“-Schild, kam an einem jungen Mann vorbei, der gerade Pause von seiner Arbeit in einem türkischen Geschäft machte und eine Zigarette rauchte. Ohne zu zögern sprach ich ihn an, unvermittelt. Auch er war sofort einverstanden, dass ich einige Bilder von ihm machte.
Entscheidungen treffen
Das ist nur ein kleines Beispiel, aber ich denke, es zeigt, dass kleine und vermeintlich unwichtige Entscheidungen häufig eine viel größere Auswirkung haben können als wir erwarten. Denke an andere, womöglich weitaus wichtigere Entscheidungen im Leben, und daran, nach welchen Kriterien du dann gehst. Vermeintlich vernünftige Entscheidungen enden im Fiasko, während die Bauchentscheidung sich möglicherweise als Volltreffer erweist. Hätte ich an dem erwähnten Tag nicht den linken Weg genommen, sondern wäre aufs Fahrrad gestiegen, hätte ich den Rest des Tages schlecht gelaunt meine magere Ausbeute gesichtet. So habe ich meine Komfortzone verlassen und zwei weitere Portraits im Rahmen meines Straßenprojekts machen können.
Die Frage nach der Intuition ist ein komplexes Thema – nicht umsonst ist die Doku-Reihe 13 Folgen lang. Ich habe hier beispielhaft versucht, einen Einblick zu schaffen und etwas Sensibilität für das Thema zu wecken. Wir sollten lernen, wieder spielerischer an Dinge und vermeintliche Probleme heranzugehen, anstatt sie zu über-analysieren. In diesem Sinne: Geh‘ dir mal selbst aus dem Weg, um deinen Weg zu finden.
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