Immer wieder hört man, wenn man sich für Objektive in einem bestimmten Brennweitenbereich interessiert, den Satz „Oh schön – das ist die perfekte Portraitbrennweite“. Häufig sind damit 85mm-Objektive gemeint. Dass man damit aber auch genausogut Landschaften oder Architektur (oder alles mögliche andere) abbilden kann, wird gerne vergessen.
Häufig sind die Objektivhersteller nicht unschuldig an solchen Missverständnissen, schließlich müssen sie ja auch Werbung machen und ihre Zielgruppe ansprechen, logisch. Vielleicht liegt es auch daran, dass die allgemeine Lehrmeinung sagt, Portraits sollten immer schmeichelhaft und schön sein. Denn sonst würde sie doch eh keiner sehen wollen.
Tatsächlich aber gibt es auch hier kein „richtig“ oder „falsch“ (Du wirst es schon längst erraten haben). Portraits mit kürzeren Brennweiten sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, nicht „modern“ oder so. Als ich neulich einen Irving-Penn-Bildband durchschaute, haben mich besonders die Portraits u.a. von Louis Jouvet (1951) aufblicken lassen. Sie wirken sehr nah und direkt und das gerade nicht wegen einer langen Portraitbrennweite. Und tatsächlich ist das Gesicht formatfüllend abgebildet, es ist kein Environmental Portrait. Ebenso seine berühmten Bilder in der Ecke. Das Weitwinkel erfüllt hier genau seinen Zweck, es unterstützt die Bildaussage.
Welches Objektiv soll ich denn nun benutzen?
Das musst du entscheiden. Ganz ehrlich: Woher soll ich das wissen? Oder irgendjemand anders? Am besten probierst du es selber aus. Es hilft auch sehr, sich Bilder von Fotografen anzusehen, die dir etwas bedeuten. Oder von denen du noch nie zuvor etwas gesehen hast. Aber für die Entscheidung, welche Brennweite du nun nehmen sollst, musst du dir „einfach“ darüber im Klaren sein, was du mit dem Portrait aussagen willst. Vielleicht assoviierst du ein wenig über die Person und die Situation, schreibst die Begriffe auf, und entwickelst dadurch ein inneres Bild. Passt dazu ein Normalobjektiv? Oder vielleicht doch das 200er? Du entscheidest.
Wie du damit umgehst, bestimmt, was dabei herauskommt
Ein 85mm (bzw. Äquivalent am Crop-Sensor) wird oft als ideale Portraitbrennweite beschrieben oder gelobt. Das ist allerdings auch nur dann korrekt, wenn du ein bestimmtes Ergebnis damit erzielen möchtest. Du willst eine gewisse Kompression des Hintergrundes erzielen oder möchtest relativ nah an eine Person heraneghen, ohne bestimmte Merkmale zu verstärken (hohe Stirn, markante Nase)? Dann ist das 85er (und länger) sicher nicht falsch.
Zum Schluss stellen wir uns alle mal vor, dass jeder nur noch Portraits mit den klassischen Portraitbrennweiten (darunter fasse ich jetzt mal alles zwischen 85mm und 135mm) macht. Weil man das eben so macht. Schön, schmeichelhaft, aber auf Dauer etwas öde, oder? Und dann kommt jemand und wirft ein Weitwinkelportrait in die Runde. Wer sticht mehr hervor? Wer wirkt weniger langweilig und dafür dynamischer?
Gerade wenn du unterschiedliche Brennweiten hast, oder auch ein Zoom, stehen dir alle Möglichkeiten offen. „Achtung, Portrait“ muss nicht, darf nicht bedeuten: Oh, ja – Blende aufreißen, lange Brennweite aufschrauben oder einstellen (auch deshalb solltest du dich von den Motivprogrammen deiner Kamera fernhalten, denn die tun das genauso).
Oder wenn du nur eine Brennweite besitzt – und dann blöderweise nur ein Weitwinkel- oder Standardobjektiv (aber eben kein tolles Portraitobjektiv, von dem alle so schwärmen): Mach. Das. Beste. Draus. Nicht mit den gewünschten Ergebnissen zurückzukommen, und das dann auf die fehlende Brennweite XY zu schieben, hat einen doofen Beigeschmack. „Ach, hätte ich bloß das 105er dabeigehabt, die Bilder wären soviel besser geworden“. Oh, wirklich?
Das sollte jetzt nicht zu harsch klingen, aber ich kenne solche Situationen selbst, und im Rückblick denke ich manchmal, dass ich mal meine eigene Sicht, meine Perspektive hätte anpassen sollen.
Also: Das nächste Mal, wenn du Portraits machen sollst, packe auch das Weitwinkel mit ein. Und benutze es.