Neulich war ich auf einer Beerdigung, und auch wenn ich nicht gläubig bin, haben mich ein paar Dinge, die der Pastor sagte, berührt. Unter anderem dies: Stell dir vor, du bekommst jeden Tag 1440 Euro, über die du frei verfügen kannst. Einzige Einschränkung: Du kannst sie nicht anhäufen oder sparen, also nicht mit in den nächsten Tag mit hinübernehmen. Trotz der Einschränkung eine tolle Vorstellung.
Er hatte diese 1440 Euro als Sinnbild für die Anzahl der Minuten, die wir jeden Tag haben, genommen. Jeden Tag bekommst du 1440 Minuten aufs Neue geschenkt. Was du damit anfämgst, ist prinzipiell erst einmal allein deine Entscheidung, wenn du deine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verpflichtungen gedanklich beiseiteschiebst. Irgendwann wird dein Leben zuende gehen, und dann musst du oder wirst du vielleicht so etwas wie eine Rückschau halten, darüber, wie du mit deiner Zeit umgegangen bist. Wie du diese „Währung“ eingesetzt hast.
It’s the Limit
Stell dir vor, deine Lebenszeit wäre unbegrenzt. Oder du hättest eine Lebenserwartung von sagen wir 1000 oder 2000 Jahren. Dein Konto wäre also gut gefüllt, aber was würdest du mit dieser Zeit anfangen, ohne dass es irgendein „Zu Ende“ gäbe?
Oder ganz anders herum: Was wäre, wenn du wüsstest, dass du nur noch einen Tag zu Leben hättest, oder 6 Monate? Auch ich würde mich über ein langes Leben bei guter Gesundheit sehr freuen, keine Frage. Aber ich bin mittlerweile überzeugt, dass es unsere Endlichkeit ist, die uns kreativ werden lässt (oder werden lassen kann). Die uns lehren kann, im Moment zu leben.
Jeder Mensch hat in sich den Drang, etwas zu (er-)schaffen, zu finden, zu leisten. Manche sind sich dessen sehr bewusst, andere haben es noch nicht für sich entdeckt. Oder sie wissen nicht, was in ihnen schlummert, weil die Alltagssorgen, -nöte und -aufgaben sie zu sehr vereinnahmen.
Das Angesicht eines Endes bringt dich dazu, das Beste aus dem zu machen, was du zur Verfügung hast, seien es deine Fähigkeiten oder die Mittel, auf die du zurückgreifen kannst.
Irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich mit deiner Endlichkeit auseinandersetzen musst. Sie ver- oder bearbeiten musst.
Entscheidungen und Wegbiegungen
Frage dich, was du mit deiner Zeit anstellen willst. Jeden Tag aufs Neue. Ist die Zeit, in der du einem bestimmten Job nachgehst, gut angelegt? Wenn du irgendwo für Geld arbeitest, ist es nicht nur deine Fachkenntnis und deine Arbeitskraft die du verkaufst. In erster Linie ist es deine Lebenszeit, die du für Geld eintauschst.
Ich hatte mal einen Kollegen, der musste sein Haus abbezahlen und seine Familie durchbringen. Jeden Monat war das Geld aus seinem Fulltime-Job komplett dafür aufgebraucht. Ein Job, der ihn nicht sonderlich glücklich machte, sondern der ihm auch noch seine wertvolle Zeit (9 Stunden am Tag) nahm. Für mich war das seinerzeit keine Option (gut, meine Stelle war damals eh nur auf ein Jahr befristet).
Dass ich danach ein paar Jahre ganz happy in einem anderen Job war, der mich aber irgendwann nicht mehr erfüllte, sei nur am Rande erwähnt. Auch wenn ich ein gutes Auskommen hatte, kündigte ich irgendwann doch. Jetzt arbeite ich mehr und länger, aber anders – und es fühlt sich nicht wie Arbeit im herkömmlichen Sinne an. Meine Entscheidung habe ich nicht bereut, auch wenn es weitaus mehr Unsicherheiten gibt und ich nie weiß, ob mich hinter der nächsten Flußbiegung eine Stromschnelle oder ein ruhigerer Lauf erwartet. (Das „Flussbild“ ist im übrigen auch schön auf die Streetfotografie zu übertragen: Du weißt nie, was hinter der nächsten Straßenecke auf dich wartet).
Erfüllung finden
Klar: Es muss nicht zwingend so sein, wie ich es hier schildere. Es gibt zahllose andere Möglichkeiten, ein erfülltes Leben zu führen. Vom Halbtagsjob, der genügend Freiraum für kreatives Tun abseits der wirtschaftlichen Zwänge bietet, über den 60-Stunden-Job (von der 4-Stunden-Woche mal ganz abgesehen), in dem man voll und ganz aufgeht bis zum Leben als Zen-Mönch.
Nach diesem ganzen Philosophieren fragst du dich: Was hat das mit Fotografie zu tun, ist das hier doch ein Fotografie-Blog? Fotografie ist eben eine Art (aber auch nur eine von vielen), das Leben, den Alltag und die Welt zu betrachten. Manchmal anders zu sehen, als man es vielleicht ohne Kamera tun würde, und diese eigene Sichtweise auch anderen Menschen zugänglich zu machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für andere ist es Tanz, was sie erfüllt, Schreiben, Malerei oder Skulptur.
Sehenden Auges – achtsam – durch die Welt zu gehen, kann man gut auch ohne Kamera üben. Momente einzufangen und zu zeigen, wie man sie empfunden hat, dafür ist der Fotoapparat ein gutes Werkzeug. Mit ihm umzugehen, erfordert Übung, genau wie zum Beispiel die Schriftstellerei. Und genau das kann Fotografie für mich bedeuten: Eine Übung in Achtsamkeit.
Abschließend bemerkt: Das obige Bild ist nebenbei entstanden, als wir am Tag der Beerdigung zu fünft in die Stadt gingen. Außer mir hat es in dem Moment niemand bewusst wahrgenommen.