Neulich fand ich unterm Tannenbaum ein Buch von einem deutschen Fotografen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft portraitiert hat und der seit langem einen Platz im New Yorker Museum of Modern Art hat: Die Rede ist von August Sander und seinem Werk „Antlitz der Zeit“.
An verschiedenen Stellen hatte ich bereits Bilder von Sander gesehen, bei meinen Magisterarbeits-Recherchen zur „Neuen Sachlichkeit“, in einer Ausstellung (Leider weiß ich nicht mehr, wo. Kunsthalle Hamburg? Documenta? Egal.). Besonders im Gedächtnis blieb mir das Portrait des Konditors. Die Eindringlichkeit des Blicks und die selbstbewusste Haltung hatte ich schon damals als irritierend empfunden, hatten sie doch wenig mit meiner Vorstellung des Berufs zu tun. So hatte ich im Rückblick immer die Assoziation zu einem Fleischermeister. Eine sehr unromantische Fotografie und Abbildung der ungeschminkten alltäglichen Realität.
Später ist er mir bei einigen Vorträgen und Videoworkshops von Eileen Rafferty und Eric Kim wiederbegegnet. Und schließlich halte ich das kleine Büchlein mit den 60 Bildtafeln in den Händen. Die Einleitung stammt von Alfred Döblin, einem Zeitgenossen Sanders.
Gesicht der Gesellschaft
Das Buch, 1929 veröffentlicht und eine Vorwegnahme eines weitaus größeren Projektes von August Sander („Menschen des 20. Jahrhunderts“), stellt ein Abbild der Gesellschaft der Jahre zwischen 1910 und 1929 dar. Vom Arbeitslosen bis zum Industriellen, von der Bäuerin bis zum Pfarrer: Sie alle hat Sander mit nüchternem Blick abgelichtet.
Ich möchte hier keinen Versuch starten, Antwort auf die Frage zu geben, ob August Sander nun als Vorläufer der Streetfotografie zu sehen ist. Das ist irrelevant. Aber wahrscheinlich war er einer der ersten in Deutschland, die Menschen außerhalb des Studios und dabei nicht idealisiert portraitiert haben. Sanders Bilder sind gestellte, aber ungeschönte Aufnahmen von Typen oder Charakteren.
Das Antlitz: Einerseits sind das die Gesichter der einzelnen Portraitierten. Kein Lächeln, meist von Arbeit und Mühsal gezeichnet. Die Geschichte steht in ihren Gesichtern. Zum anderen hat Sander für „Antlitz der Zeit“ meist Halb- bis Ganzkörperportraits gemacht. So spiegelt auch die Pose das Antlitz wider. Die Haltung der Einzelnen sagt viel über Stand und Selbstverständnis und lügt genauso wenig wie der Gesichtsausdruck.
Was können wir von August Sander lernen?
Ich denke, dass es das Ungeschminkte, Eindringliche und Authentische ist, das mich (und wahrscheinlich auch andere) an Sanders Fotos beeindruckt. Und interessant dabei ist – für die Streetfotografie besonders interessant – , dass die Bilder posiert und gestellt sind, was viele Streetfotografen eher ablehnen. Gestellte Straßenportraits können mindestens genauso intensiv sein und vielleicht sogar aussagekräftiger sein, als eine ungestellte Aufnahme. Schaut euch Bilder von Josef Koudelka oder Diane Arbus an, und ihr wisst, was ich meine.
Es spielt also keine entscheidende Rolle, ob ein Bild immer gestellt sein muss oder nicht: Viel wichtiger für eine authentische Aufnahme von Menschen ist die Beobachtungsgabe des Fotografen. Das gilt für den Beautyshot genauso wie für das Straßenportrait. August Sander hat dies bereits vor mehr als 100 Jahren vorgemacht.