Bereits zum 2. Mal besuchte ich die Ausstellung „The Living and the Dead“ im Bucerius Kunst Forum in Hamburg. Hauptsächlich war ich wegen seiner Künstlerportraits noch einmal dort. Beim ersten Mal hatte ich seine Selbstportraits und die Grabbilder, die im oberen Stockwerk gezeigt werden, ein wenig vernachlässigt, sie eher als „Dreingabe“ betrachtet.
Jetzt wiederum wurde mir erst richtig klar, dass diese anders funktionieren und eine andere Betrachtung erfordern. Sie spiegeln eine Suche nach dem tieferen Sinn des „offiziellen“ Schaffens und der eigenen Geschichte – Herkunft, Auseinandersetzung mit der Familie, Tod usw. – wieder. Die Künstlerportraits bestechen durch den bekannten und berühmten Stil und die teils sehr großen Formate, während seine selbstreflexiven Bilder eher still, bisweilen komisch und dabei sehr tief sind.
Es gibt einige Dinge, die wir von Anton Corbijns Bildern lernen können. Was ich aus meinen zwei Begegnungen mit seinen Fotografien mitgenommen habe, sind folgende Dinge:
- Schärfe ist nicht alles
Es ist nicht so, dass Cobijns Bilder unscharf wären. Im Gegenteil, manche sind sehr scharf. Aber andere wiederum sind verwackelt oder extrem körnig, oder auch durch das Gegenlicht einfach weicher. Gerade das ist es, das diese Bilder so besonders macht. - Vorhandenes Licht ist (manchmal) besser als ein Blitz
Corbijn benutzt keinen Blitz, er arbeitet mit dem, was da ist. Tageslicht, Straßenlampen, oder auch mal eine Taschenlampe. Kein aufwändiges Lichtsetup. Ein Blitz hätte seinen Bildern eher geschadet. - Schwarz kann auch richtig schwarz sein
Es sind die Schatten, die den Bildern ihren Charakter geben. Schatten ohne Zeichnung, tiefes Schwarz. Wenn du in den Schatten noch Zeichnung sehen willst, dann nimm Ansel Adams. Aber nicht Anton Corbijn. - Der Moment zählt
Eine der stärksten Stärken in den Bildern ist der entscheidende Moment, in dem er seine Models einfängt. Häufig ist es nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem sich die „Seele“ des Portraitierten offenbart, der Schutzschild fällt. - Deine Ausrüstung ist nebensächlich
Dadurch, dass er technisch eher einfach arbeitet, kommt seine volle Aufmerksamkeit dem Bild zugute. Eine mechanische Kamera mit Zeiten- und Blendenrad, ein Film. Kein technischer Schnickschnack, der vom wesentlichen Ablenkt. - Analoge Fotografie hat ihre eigene Ästhetik
Unser Auge ist mittlerweile auf digitale, superscharfe, und perfekte Bilder konditioniert. Es ist eine regelrechte Wohltat, sich auf technisch unperfekte, aber dafür inhaltlich umso spannendere Bilder einzulassen. - Vergiss die Drittel-oder-sonstwas-regel
Manche der Portraits sind zwar nicht symmetrisch, aber zentriert ausgerichtet. Andere wiederum zeigen den Portraitierten eher am Rand des Bildes. Gestaltung bzw. Komposition ist generell nicht in Regeln zu fassen. Schalte selber dein Gitterraster im Sucher ab und fotografiere so, wie es dir gefällt. - Vergiss Catchlights
In Corbijns Portraits sind Glanzlichter eher die Ausnahme. Was du in einem „normalen“ oder „schönen“ Portrait schmerzlich vermissen würdest, ist hier einfach nicht vorhanden. Interessanterweise verleiht die Abwesenheit von Catchlights den Bildern das gewisse Etwas. Sieh dir das Bild von PJ Harvey an, und du weißt, was ich meine. - Du kannst deine Schwäche zu deiner Stärke machen
Wie aus dem Begleittext deutlich wird, ist Corbijn ein Künstler, der sich wenig bis gar nicht um Technik schert und aus einem fotografischen „Unvermögen“ einen neuen unverkennbaren Stil herausgearbeitet hat. Seine Bilder wirken eher ungeplant und unvorhergesehen, und für mich wohnt ihnen trotz ihrer Düsternis eine Spontaneität und Unbeschwertheit inne.
Das waren meine paar Cents zur Ausstellung „The Living and the Dead“ von Anton Corbijn im Bucerius Kunst Forum in Hamburg. Es war das erste Mal, dass ich seine Bilder im Original und voller Größe sehen konnte. Dass sie bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, ist glaube ich deutlich geworden.
Corbijn ist ein lebendes Beispiel dafür, dass große Fotografie oder Kunst (bzw. eine Karriere als Künstler) nicht planbar ist und allein mit technischem Wissen und Gestaltungsvermögen allein nicht erreicht werden kann. Ein Beispiel dafür, dass es sich lohnt, Fehler zuzulassen – nur so werden neue, andere Bilder entstehen können.
Ein ganz toller Beitrag, Tilman!
Sehr interessant, inspirierend und mit langem Nachhall!
Danke dafür!
McKlusky
Sehr gern, Michael. Ich glaube nach wie vor, dass die Abweichungen von der vermeintlichen Norm extrem wichtig sind, wenn man so etwas wie einen eigenen Stil entwickeln will.
Danke dir für das Feedback!