„Sei mal kreativ“ – das ist ebenso uninspirierend wie der Spruch „Sei doch mal spontan“. Beide Male versucht man, etwas zu erzwingen, was jedoch so nicht geht. Es ist so ähnlich, als würde man versuchen, sich an einen Traum zu erinnern: Hat man einen Fetzen erwischt, ist er schon wieder weg. Später am Tag, wenn man gar nicht mehr daran denkt, kommt das gesuchte Traumbild dann vielleicht wieder. Kreativität oder auch Spontaneität entgleiten einem wie Wasser, das man mit einem Spielzeugsieb aus einem Eimer schöpfen will.

Es gibt kein kugelsicheres Rezept für Kreativität. Die folgenden Punkte würde ich nicht als Techniken beschreiben, sondern eher als Schritte, die mir helfen, kreativ zu sein. Und ich bin mir sicher, dass sie dir genauso hilfreich sein können.

Lass dich treiben

Versuche nichts zu erzwingen. Verbringe mal eine Zeit mit Tagträumen, mit dem losen Assoziieren von scheinbar nicht zusammengehörenden Worten. Stelle deinen Wecker eine halbe Stunde früher als sonst, und lasse die Traumbilder der letzten Nacht auf dich wirken. Notiere sie – am besten mit Papier und Bleistift (Dein Smartphone oder Tablet würde dich nur ablenken). Wichtig hierbei: Schreibe die Bilder oder Szenen auf, ohne sie zu werten!

Schalte den inneren Zensor aus

Deine innere Stimme sagt „Hey, das kannst du so nicht machen“? Dann tue es ganz bewusst. Gehe in die andere Richtung. Fotografiere nur schiefe Horizonte. Portraits mit Weitwinkel aus nächster Nähe. Vergiss Graustufen und lasse die Schatten komplett absaufen (oder die Lichter ausbrennen, oder beides). Ignoriere die Drittelregel, setze alles gnadenlos in die Mitte. Nimm hartes Licht bei Portraits, am besten in der prallen Mittagssonne. Du weißt, was ich meine – sogenannte Regeln sind auch Grenzen, und es ist wichtig, aus diesen auszubrechen. Nur so kannst du kreatives Neuland entdecken.

Mache Fehler

Es ist schwer, bewusst Fehler zu begehen, aber auch normale Fehler, die ungewollt passieren, haben ein ungeheures kreatives Potenzial. Wie las ich neulich in einem Magazin: Viele Kochrezepte sind erst dadurch entstanden, dass irrtümlicherweise irgendwelche Zutaten vertauscht, Backzeiten nicht eingehalten oder beim Servieren alles auf den Kopf gedreht worden ist. Am ehesten lässt sich das Kochbeispiel mit der analogen Fotografie vergleichen, wo mehr Material im Spiel ist. Aber auch, wenn du einmal von der Unterscheidung analog/digital absiehst, finden sich genügend andere „Fehlerquellen“, die du nutzen kannst.

Die Rückbesinnung auf solche und ähnliche Schritte hilft mir bisweilen, kreativ zu werden und Dinge zu entdecken, an die ich vorher noch nicht gedacht habe. Ich hoffe, dass sie dich auf der Suche nach deiner kreativen Stimme inspirieren.

Oh, und was den oben erwähnten Eimer betrifft: Der ist eigentlich immer gefüllt. Du musst nur einen Weg finden, das Wasser herauszuschöpfen.

5 Responses
  1. Peter Kröber

    Lieber Tilman,

    ich folge Dir jetzt schon eine ganze Zeit. Zeit – ja die hätte ich gerne um was mit Dir oder bei Dir zu machen. Dein Artikel „Sei mal kreativ“ trifft es wirklich so wie es ist. Sich von diesen Abhängigkeiten Technik oder den „Regeln“ der Fotografie frei zu machen fällt wohl jedem schwer, der fotografiert. Mir geht es ebenso. Aber die „guten“ sind meist die verunglückten, die so nicht gewollten Bilder, die im Einerlei Bestand haben. Mich langweilt zunehmend die Superwelt der perfekten Bilder, gefotoshopt bis zum Anschlag, überfiltert bis zum geht nicht mehr. Natürlich – alles eine Frage des Geschmacks? Ein Hoch auf die Anonymen Analogiker, die Jungen Wilden Fotografen und die, die es schaffen sich zu reduzieren.
    Wir arbeiten dran.

    Peter

    1. Tilman

      Peter,

      danke, dass du dir die Zeit für das Lesen und Schreiben genommen hast! Natürlich mag auch ich Regeln, die sind so etwas wie das Geländer, und man geht einen sicheren, wenn auch nicht so spannenden Weg. Ohne wird es manchmal etwas rutschig, aber mitunter – um bei dem Bild zu bleiben – entdeckt man etwas, auf das man so nicht gekommen wäre.
      Vielleicht sehen wir uns mal wieder ;-)!

      Tilman

      PS: „Anonyme Analogiker“ – den muss ich mir merken…

  2. Oh ja das ist so wahr /o
    je mehr ich erzwingen will umso schneller ist es zum scheitern verurteilt.
    Ich mußte auch mühsam lernen das die Kreativität nicht ständig abrufbar ist, sondern
    mitunter sehr lange sich versteckt.
    Aber das einfach abwarten und auf den nächsten Schub warten wo es dann nur so
    sprudelt, ist so unglaubluch schwer und so gar nix für mich als extrem ungeduldige.
    Da werd ich schon mal traurig und bin dann kurz davor alles zu verkaufen 🙁
    Aber dann gibt es so Texte wie diesen hier bei dir und der baut dann wieder auf, weil
    man weiß es geht anderen Kreativen auch so 🙂

    Lg Aurelia

    1. Tilman

      Aurelia,

      genau – erzwingen geht so gar nicht, wenn du wirklich etwas neues entdecken willst. Dann reicht es gerade mal für den gewohnten Standard.
      Ich denke auch, dass Geduld eine Rolle spielt. Und gut, dass du den Text gelesen hast, bevor du alles verkaufen wolltest ;-)!

      Tilman