Das obige Bild ist nach einem weiteren Besuch im Flensburger Tagestreff – der Einrichtung für wohnungslose Männer – entstanden. Kurz zuvor (die leeren Fläschchen waren bereits dort) hatte ich ein Gespräch mit zwei Besuchern. Der eine offenbarte mir, dass er auf der Ausstellung „Flensburg Faces“ seinen alten Freund gesehen hatte und zu Tränen gerührt war. Solche Bemerkungen berühren mich natürlich sehr, und ich weiß eigentlich nicht, wie damit umgehen. Einfach annehmen, denke ich. Ich bin eben auch nur der Fotograf, und manches fange ich gut, manches weniger gut ein.

Einige Male war ich nun schon im Tagestreff, um Kontakt aufzunehmen und Bilder zu machen. Ich versuche, ein bis zweimal in der Woche dort zu sein. Häufig dieselben Gesichter, manchmal kommen neue dazu. Immer wieder neue Geschichten, die sich irgendwo ähneln und dann wieder ganz unterschiedlich sind.

Durch Flensburg Faces habe ich vielleicht bei Manchen einen Vertrauensvorschuss. Einige der Männer waren in der Ausstellung, die im Foyer des Rathauses aufgebaut war, und wo man fast automatisch vorbeikam, wenn man z.B. ins Bürgerbüro wollte. Oft sahen sie dort Bekannte oder „Schicksalspartner“ abgebildet, wie eben auch der eingangs erwähnte Mann seinen Freund gesehen hatte.

Krise heißt Ent-Scheidung

Irgendwann hatte ich mich bewusst dafür entschieden, den Weg einzuschlagen, die Welt fotografisch zu erfassen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Das Thema Lebenswege schwebt unsichtbar, aber greifbar über allem, wenn ich an den Tagestreff denke. Und es konfrontiert mich die Arbeit dort mit der Sicht auf meine eigene Lebensreise. Bringt mich dazu, zu fragen, welches Ereignis, welcher Umstand einen Menschen so aus der Bahn werfen kann. Es gibt welche, die sind ganz happy mit ihrer Situation. Lediglich die Tatsache – so einer – keinen festen Wohnsitz zu haben, gefällt ihm „nicht so ganz“.

Bei manchen (Akademiker und Hilfsarbeiter gleichermaßen übrigens) verlief der Prozess des Abstiegs allmählich, Trennung, Schulden, psychische Probleme. Bei anderen war es ein Moment, der alles auf den Kopf stellte. Eine Straftat, ein plötzlicher Verlust, was auch immer.

Und immer wieder der Blick auf mich selbst und die Frage, was es braucht, um komplett abzurutschen, ob es mir selbst auch passieren kann. Da hören sich Worte wie Scheitern als Chance erst einmal wie Hohngelächter an (auch wenn ich selber dem Scheitern einen hohen Stellenwert beimesse). Was Menschen, die ihr eigenes Scheitern als Möglichkeit genutzt haben, sich neu zu erfinden, ist meiner derzeitigen Erfahrung nach ihr gefestigtes soziale Umfeld. Das denen, die ich derzeit portraitiere, ziemlich komplett fehlt.

Wie Charles Bukowski schon sagte: „Gib einem Mann lange genug seine vier Wände, und er ist imstande und macht sich die Welt untertan.“ Aber es sind eben auch die Beziehungen zu anderen Menschen, die Mensch braucht, um ganz zu sein.

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2 Responses
  1. matthias holling

    sitze gerade im Bus von Berlin nach Flensburg und lese Deine Artikel, schaue mir die Bilder dazu an. Draußen regnet es, ich hab noch drei Stunden vor mir. Zeit für die Themen hier, das ist schön.