Angeregt unter anderem durch die E-Mail eines Psychologen, der den Bildband Flensburg Faces für seine Praxis erworben hatte, habe ich einen weiteren Aspekt zum Thema „Menschenfotografie“ kennengelernt. Besonders diese Passage hatte mich berührt:

Keinen fremden Menschen dürfte man so anstarren, aber hier kann man ein (fremdes) Gesicht in Ruhe auf sich wirken lassen. Was löst das aus? Welche Emotionen, Schubladen, Assoziationen tauchen auf?

Tatsächlich – das gebe ich zu – hat Fotografie von Menschen etwas Voyeuristisches. Aber eher im positiven Sinn, lässt man Paparazzi-Bilder einmal außen vor. Als Fotograf bin ich in neugierig, möchte einen bestimmten Ausdruck oder das gewisse Etwas in einem Menschen einfangen, herauslocken. Als Betrachter wiederum kann ich mich über das Medium Bild den anderen Menschen ganz anders nähern, ohne ihnen physisch zu begegnen und womöglich eine Konfrontation zu provozieren.

Nähe in der Menschenfotografie

Mit mir als Fotografen macht die Arbeit mit Menschen jedoch noch mehr. Während der Portrait-Session kann ich ein Gesicht sehr ausführlich studieren, Details analysieren und Schokoladenseiten herausfiltern. In der Nachbearbeitung – und das wurde mir erst in den vergangenen Wochen richtig klar – bin ich den Menschen teilweise sehr nahe, sehe sie detailreicher und deutlicher als sie sich vielleicht selbst. (Natürlich wissen sie das, und meine Aufgabe ist, sie genau das vergessen zu lassen.)

Sowohl das Shooting als auch das Bearbeiten bergen also teilweise intime Momente. Die technische Auflösung der Bilder trägt ihren Teil dazu bei, klar. Aber als Fotografierender muss ich auch wieder diesen Schritt zurücktreten und die Perspektive des Betrachters einnehmen, desjenigen, der das Bild später sieht.

Nicht zu vergessen, dass ich darüber hinaus auch noch in der Lage sein sollte, mich in die Lage des Models hineinzuversetzen. Was mich auf eine weitere E-Mail bringt, in der sich eine Frau, die ich für Portraitfotos angefragt hatte, Gedanken zu ihren (potenziellen) Fotos macht:

Ich merke, es kann helfen bei wichtigen Lebensthemen, so nach dem Motto:
Wo stehe ich eigentlich gerade?
Wie will ich weitermachen, wie sinnvoll meine zweite Lebenshälfte nutzen?
So ein Blick auf die äußere … wäre vielleicht hilfreich.

Wow. Ich beschäftige mich schon eine Weile mit Portraitfotografie, aber auch diesen Aspekt hatte ich bis jetzt nicht auf meiner Agenda. Menschenfotografie als Selbstreflexion, als Antwort auf Fragen wie die obigen und als erneute Fragestellung. Nicht nur für die Portraitierten, sondern ganz konkret auch für mich und meine Entwicklung: Wie sehe ich die Menschen? Gibt es eine Entwicklung in meiner Arbeit, eine Tendenz?

Ich war und bin regelrecht dankbar für diese Impulse, die verdeutlichen, dass es nicht einfach nur um das bloße Abfotografieren von Leuten geht. Vielmehr – und das ist für mich die Kunst im Fotografieren von Menschen – bin ich als Fotograf dasjenige Werkzeug, das das Individuelle des Menschen im Bild herausarbeitet. So eine Art Hebamme, vielleicht. In diesem Sinne ist die Kamera also „nur“ noch ein Medium, das mir diese Arbeit ermöglicht.

2 Responses
    1. Tilman

      Hallo Matthias, danke dir! Ja – manchmal gelingen einem Bilder, die nicht nur auf die Fassade abzielen. Die zeigen, wie es ist, wenn die Maske fällt…